Literatur
Mama sagt, dass Lesen wichtig ist und das Mädchen liest tatsächlich sehr gerne. Mama kauft dem Mädchen auch viele Bücher und zu Weihnachten und zum Geburtstag gibt es Bücher. Mama sucht die Bücher aus, die das Mädchen lesen soll. Sie hat es dagegen nicht so gern, wenn andere Personen dem Mädchen Bücher schenken. Mama sagt immer, das Niveau muss passen. Die Bücher müssen einen Mehrwert haben. Nur lesen, weil der Inhalt Freude macht, kommt nicht in Frage.
Und so liest das Mädchen. Sie liest vom verlorenen Licht, ein Buch, in dem es darum geht, wie ein Junge nach dem Sturz in eine Kalkgrube erblindet. Das Mädchen solle froh sein, dass es sehen kann. Und sie fragt mal Alice, wie es im gleichnamigen Buch dazu kommen konnte, dass das Mädchen drogenabhängig wurde. Das Mädchen hat einen Adventskalender, mit Geschichten von Kindern aus aller Welt. Kinder zeigen Dir die Welt, heißt der Blätterkalender. Das Mädchen lernt auch hier, dass es fast allen Kindern auf der Welt schlechter geht als ihr selbst, weil sie hungern oder frieren müssen, weil sie kein eigenes Zimmer haben und manchmal sogar keine Eltern, weil sie schon früh arbeiten müssen und weil sie keine Geschenke bekommen. Das Mädchen liest über Umweltaktivisten und wartet mit Nelly auf den Frieden. Auch Mama hat auf den Frieden gewartet sagt sie, weil sie mitten in den Krieg geboren wurde. Mama hat eine schlimme Flucht hinter sich, sagt sie. Da haben sie am Abend das Haus verlassen, mussten mitten in der Nacht durch den Wald und über die Grenze und auf der anderen Seite wurden sie, Oma und die Tante, gefangengenommen. Das Mädchen lernt die Kinder vom Bahnhof Zoo kennen und liest, gerade 11 Jahre alt, das Tagebuch der Anne Frank. Schlimm ist das alles und traurig macht es das Mädchen. Das Mädchen lernt, liest, leidet und sieht ein, dass es eigentlich allen Kindern auf der Welt ziemlich schlecht geht. Immer wieder muss das Mädchen sich vor Augen halten, dass sie nichts (mehr) ausrichten kann. Auch wenn sich das Mädchen noch so anstrengt, Geschichten und Geschichte kann sie nicht verändern. Ja, sagt Mama, aber das Mädchen kann mit Ehrfurcht den Menschen begegnen, die das erlebt haben, dankbar dafür sein, was es hat und vielleicht öfter mal anfangen nachzudenken und sich derer zu erinnern, die es viel schlechter haben als das Mädchen. Und sie kann dazu beitragen, in Zukunft solche schlimmen Geschichten zu verhindern. Wie, weiß das Mädchen zwar nicht, aber es will es versuchen.
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