Mitten ins Schwarze

 

Es ist Winter und bei Mama und Papa ist die Heizung ausgefallen. Mittlerweile haben Mama und Papa den neuen Mann im Leben des Mädchens angenommen. Er ist vor allem für Mama zu einer beliebten Anlaufstelle geworden. Vorhänge aufhängen, Vorhänge abhängen, Gartenarbeiten machen und vieles mehr. Wie gut, dass der neue Mann so hilfsbereit und geduldig ist. Wenn Papa etwas nicht allein machen kann, was sich Mama handwerklich vorstellt, dann kann es ja der neue Mann zusammen mit Papa machen.

So ist auch beim Drama der ausgefallenen Heizung der neue Mann Ansprechpartner Nr. 1. Wie immer hilfsbereit wird alles mobilisiert, ein Heizlüfter besorgt und man fährt zu den Eltern des Mädchens. Akutmaßnahmen vornehmen, mögliche Reparaturen sofort erledigen. Dann sitzt man gemeinsam in der Küche und trinkt Grog.

Mama ist gestresst und es geht ihr gesundheitlich mal wieder nicht gut. Sie wählt den neuen Mann als Ansprechpartner und klagt ihm ihr Leid. Wie schwer sie es hatte im Leben, wie sehr ihr ihre Gesundheit zu schaffen macht, dass alles eine Belastung wäre, dass sich das niemand vorstellen könne und dass vor allem ihre Familie eine Belastung wäre.

Der neue Mann hört zu und sagt dann, dass es auch mal gut sein müsse und wenn Mama so weiter lamentiert, dann wäre am Ende das Mädchen noch schuld daran, dass Mama Schwindelanfälle hat.

Betretenes Schweigen. Die Stimmung gefriert. Papa ist entsetzt, das Mädchen ist entsetzt. Der neue Mann hat einfach das ausgesprochen, was sich Papa und das Mädchen seit vielen Jahren denken. Was für ein Tabubruch. Was kommt jetzt? Das Mädchen und Papa erwarten, dass gleich die Welt untergeht, oder Mama sich plötzlich zu einem Monster verwandelt und den neuen Mann auffrisst.

Mama kann nur gucken. Noch nie hat jemand sich so etwas herausgenommen. Sie reagiert erst einmal gar nicht und fixiert den neuen Mann. Der sagt, er gehe erst einmal auf die Terrasse, eine rauchen. Er hat gemerkt, dass er ein Wespennest erwischt hat. Auch er wartet auf die Stiche. Er verlässt die Küche, Mama geht ihm nach. Das Mädchen und Papa bleiben wie versteinert sitzen.

Papa und das Mädchen schauen sich an. Sie sagen nichts, aber in den Augen beider liegt die Erkenntnis des Verstehens.

Was weder Papa noch das Mädchen geschafft haben, was sie nie wagten, hat einfach der neue Mann gemacht. Und im Moment ist die Welt noch nicht untergegangen.
So einfach kann das nicht sein. Was mag noch kommen? Welche Katastrophe nimmt jetzt ihren Lauf?

Auf der Terrasse argumentiert Mama weiter. Nicht böse, nicht herablassend, aber bestimmt und selbstbezogen.
Der Mann hört zu und bleibt bei seiner Meinung.
Für heute muss Mama aufgeben. Irgendwie scheint sie zu merken, dass auch ein Weinkrampf oder ein Zusammenbruch die Situation im Moment nicht ändern würden.

Auf dem Weg nach Hause fragt das Mädchen, warum sein neuer Partner, sein Fels das gemacht hätte. Weil es Zeit wird, dass die Wahrheit ausgesprochen wird, sagt der Mann.

Weil man alles tut, damit es Mama gut geht und es doch nie genug wäre. Weil es nötig wird, weil es schon lange nötigt ist, Grenzen zu setzen.

Ja, denkt sich das Mädchen. Warum kannst Du das, fragt sich das Mädchen. Warum hast du keine Angst?

Wovor er Angst haben solle, fragt der Mann. Das Mädchen kann es nicht in Worte fassen. Vor Allem. 
Nein, sagt der Mann, dazu gäbe es keinen Grund.


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