Vernachlässigte Mutter

 

Mama fährt nicht gerne Auto, lieber Zug. Das Mädchen wohnt nahe dem Bahnhof in Augsburg. Mama kommt es manchmal besuchen, aber nicht oft, denn die Wohnung befindet sich im 3. Stock ohne Aufzug. Das Mädchen soll sich aber täglich bei Mama melden.

Das tut das Mädchen nicht immer. Ab und zu, weil es neben der Uni und den Nebenjobs, die es macht, nicht dazukommt und die Zeiten, zu denen Mama gut ansprechbar ist, nicht passen. Ab und zu, weil sie einfach keine Lust hat.

Es geht Mama allerdings immer schlecht, wenn das Mädchen anruft. Ganz gleich, ob es der täglichen Pflicht nachkommt, oder ein paar Tage dazwischen vergangen sind.

Der Beginn der Telefonate ist immer gleichlautend: „Ach Kind, schön dass Du anrufst, mir geht es schlecht.“

Diese Einleitung wird nur getoppt durch die Aussage: „Ich dachte schon, Du meldest Dich gar nicht mehr.“ – wenn der tägliche Anruf nicht erfolgt war.

Wenn Mama sich sehr vernachlässigt fühlt, darf sich das Mädchen das anhören. Niemand würde sich um Mama kümmern. Ganz allein leide sie zu Hause. Das Mädchen habe wohl gar nicht daran gedacht, wie es Mama gehen würde.

Das Mädchen denkt sich immer und sagt manchmal, dass es keine Gedanken lesen kann und ein Telefon zweiseitig funktioniert. Dann ist Mama beleidigt. Es wäre die Pflicht des Mädchens, sich um seine Mutter zu kümmern und nicht die Pflicht von Mama, um Hilfe bitten zu müssen.

Mama wäre schließlich auch ihr Leben lang für das Mädchen dagewesen und hätte nicht darauf gewartet, dass das Mädchen seine Wünsche formuliert. Das Mädchen denkt sich, dass man das auch anders sehen kann, aber es sagt nichts.

Spätestens jeden Sonntag will Mama besucht werden, oftmals braucht sie aber auch unter der Woche ganz dringend etwas, dann ruft sie an, damit das Mädchen zu ihr kommt. Funktioniert das nicht, ist Mama beleidigt.

Das Mädchen wohnt mit seinem Freund zusammen. Auch dessen Mutter möchte am Sonntag besucht werden. Das Mädchen und der Freund wollen gerecht wechseln. Eine Woche fährt man zur Mutter des Freundes, eine Woche fährt man zur Mutter des Mädchens.

Das ist ungerecht, findet Mama. Sie hat nur eine Tochter, die Mutter des Freundes hat 4 Kinder und muss ihren Sohn also nicht jede Woche sehen. Mama sagt, 4 Sonntage bei ihr und einer bei der Mutter des Freundes wäre eine gerechte Rechnung.

Das Mädchen und sein Freund halten sich nicht immer daran. Der Freund mag nicht so gerne bei der Familie des Mädchens sein.

An Weihnachten ist es besonders knifflig. Jede Familie möchte die Kinder zur gleichen Zeit bei sich wissen und das Mädchen und sein Freund wollen Weihnachten auch zusammen feiern und sich nicht aufteilen.
Beide Familien sind beleidigt. „Geht ihr schon?“ – heißt es auf der einen, „Jetzt kommt ihr erst?“ auf der anderen Seite.

Mama kocht nach wie vor besonders an Weihnachten, während es bei der Familie des Freundes an Weihnachten nur Würstchen mit Kartoffelsalat gibt.
Mama sagt, die Familie hätte keine Feierkultur und dass man Weihnachten zelebrieren müsse, und darauf würde sie sich besser verstehen, weil sie mehr Stil hätte.
Das sagt sie auch im Beisein des Freundes und kann nicht verstehen, dass dieser von derlei Aussagen nicht besonders begeistert ist.
Manchmal wollen der Freund und das Mädchen den Spieß umdrehen und laden die Eltern in ihre Wohnung ein. Für Papa und Mama ist es aber eine Belastung im Dunkeln in die Stadt fahren zu müssen, dann die Parkplatzsuche und der Aufstieg in den dritten Stock ohne Aufzug. Da ist der Heilige Abend ja schon gelaufen und bestimmt bekommt Mama dann wieder Herzprobleme.

Am Ende können sich sowohl das Mädchen als auch sein Freund sicher sein, dass mindestens eine Familie beleidigt ist.

Einmal hat Mama, da lebt der Papa des Mädchens schon nicht mehr, eine Freundin zu Besuch. Mit ihr will sie Weihnachten verbringen. Die beiden Frauen haben Theaterkarten für den Nachmittag des Heiligen abends. Das ist neu für das Mädchen, galt es doch als Tabubruch, am Heiligen Abend etwas zu unternehmen.

Aber die Freundin von Mama klappt plötzlich zusammen und muss am 24. Dezember ins Krankenhaus. Mama ist außer sich. Wieder hat sie niemanden an Weihnachten da und die Theaterkarten verfallen auch.
Das Mädchen richtet bei sich zu Hause alles her, legt noch einen Zahn zu, bereitet alles vor und holt Mama ab.
„Was das Mädchen jetzt hier mache?“ – fragt Mama. Das Mädchen erklärt, dass sie mit Mama jetzt ins Theater geht.

Mama ist überrascht und freut sich. Das hätte sie nicht gedacht, dass das Mädchen doch noch kulturelles Interesse zeige, vor allem nicht mehr jetzt, mit ihrem Freund, aber das sei eine prima Idee.

Das Mädchen fragt, wie es der Freundin von Mama geht und was passiert ist. Das weiß Mama nicht genau, aber jetzt ist die Freundin ja bestens aufgehoben und Mama freut sich, dass sie ins Theater gehen kann.

Vernachlässigt bleibt Mama immer. Das Mädchen kümmert sich nie gut genug um Mama.
Es bleibt, wie es war: Das Leben des Mädchens ist einfach, das von Mama eine Belastung.
Das ändert sich auch nicht, als das Mädchen selbst Mama ist. Nicht einmal, als das Mädchen das zweite Kind bekommt, eine Tatsache von der Mama sehr enttäuscht war. Ihr hätte ja auch ein Kind gereicht, warum das Mädchen jetzt noch eins „draufsetzen“ müsse.


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