Das Miststück
Innerlich kocht das Mädchen. Das kann nicht wahr
sein. Jahrelang hat Mama genau über dieses Thema gesprochen und immer wieder, auch
im Beisein anderer Personen, ihre Versprechungen gemacht und jetzt lässt sie das
Mädchen einfach so stehen und garniert das Ganze noch mit den Worten: „Komm allein
klar!“
Aber das Mädchen will ruhig bleiben. Es konfrontiert Mama mit unterkühltem Ton damit,
dass sie selbst es doch anders formuliert hätte. Wieder und immer wieder.
Mama kann ausweichen. Mama kann immer ausweichen. Das wäre anders gemeint gewesen,
sie wäre jetzt allein und nach dem Tod ihres Mannes würde es ihr nicht gutgehen
und welche Frechheit das Mädchen überhaupt besitzt, Mama mit so etwas zu behelligen.
Das Mädchen ist nicht frech. Das Mädchen möchte reden. Auf Augenhöhe. Ruhig, aber
bestimmt.
Das Mädchen wiederholt die auch in der letzten Vergangenheit gemachten Versprechungen.
Der Ehemann des Mädchens räumt die Küche auf und hört zu.
Das Mädchen zerstückelt den Sachverhalt. Das Mädchen fragt Mama, ob sie sich wirklich
nicht daran erinnern könne, jemals so etwas gesagt zu haben.
Doch, sagt Mama, aber da wären die Zeiten anders gewesen.
Das Mädchen fragt Mama, ob nicht beim letzten Weihnachten auch über dieses Thema
gesprochen worden wäre und ob Mama sich daran nicht erinnern könne. Mama fixiert
das Mädchen und schweigt.
Das Mädchen fixiert Mama auch und schweigt. Das hält Mama nicht lange aus. Sie fängt
an zu erklären, wie stark sie gesundheitlich eingeschränkt sei, dass sie so schwer
zu kämpfen hätte nach dem Tod ihres Ehemanns, dass die Tochter ja auch nie für sie
da wäre. Sie spult das ganze Band ab.
Die Tochter hört zu und antwortet, dass das jetzt gerade nicht das Thema wäre und
sie darum bitten würde, beim Thema zu bleiben.
Mama zieht ihre immer funktionierende Waffe. Sie fängt an zu weinen. Unter Schluchzen
fragt sie, womit sie das verdient hätte, warum das Mädchen so undankbar wäre, dass
sie im Leben alles falsch gemacht habe und dass man ihr immer und immer wieder Unrecht
täte. Sie wäre unsagbar traurig und aufgewühlt, was ihrem Herzen nicht gut täte.
Die Tochter fragt die Mutter, ob sie nicht ihre Herztropfen dabei hätte, die könne
sie ja jetzt nehmen.
Ob das Mädchen tatsächlich noch weiter diskutieren wolle, fragt Mama. Ja, die Tochter
will das Thema ausdiskutieren. Jetzt. Weil es die Tochter will.
Die Mutter fragt, ob die Tochter nicht sehen würde, was sie ihr antäte. Die Tochter
schiebt der Mutter eine Packung Taschentücher über den Tisch und sagt, dass sie
es sehr wohl nachvollziehen könne, dass es im Moment eine aufwühlende Situation
sei und dass es nicht schlimm wäre, wenn Mama weinen müsse, dass sie, die Tochter
aber nicht einsieht, das Thema jetzt nicht zu Ende auszudiskutieren.
Mama guckt in Richtung Küche und spricht den Ehemann des Mädchens an. Er solle auch
etwas dazu sagen. Er solle seiner Frau Einhalt gebieten.
Der Ehemann sagt, dass er nicht wissen würde, warum er seiner Frau den Mund verbieten
soll und dass die beiden Frauen alt genug wären, es unter sich zu klären.
Mama setzt nochmal an und versucht, den Ehemann an der Ehre zu packen. Der Ehemann
bleibt ruhig und sagt zu Mama, dass sie sich ganz genau überlegen solle, ob sie
den eingeschlagenen Weg weitergehen möchte.
Er sagt ihr, dass sie nicht versuchen solle, ihn dazu zu bringen, sich für eine
Partei zu entscheiden, denn dann wäre klar, für welche Partei er sich entscheiden
würde.
Aus Höflichkeit, Anstand und Respekt sei der bisher sehr zurückhaltend gewesen und
hätte Mama immer geholfen, auch seiner Frau zuliebe.
Wenn Mama jetzt wirklich diese Karte spielen wolle, dann würde sie verlieren. Er
an ihrer Stelle würde sich das gut überlegen.
Mama schluchzt weiter. Dann versiegen die Tränen so schnell wie sie gekommen sind.
Mama ist ruhig. Ihr Blick ist klar und kalt. Eiskalt.
Sie fixiert das Mädchen und sagt: „Dein Vater hatte immer Recht. Du bist und bleibst
ein Miststück.“
Und sie erreicht, was sie erreichen will. Die Wut bahnt sich Raum, das Mädchen schlägt
mit der Faust auf den Tisch. Dort steht ein halbvolles Weinglas. Das Glas macht
einen Satz in die Luft, fällt auf den Tisch zurück, kippt um und zerbricht. Der
Wein ergießt sich auf dem Tisch.
Mama lacht. Mama sagt: „Siehst Du, was du kannst. Du kannst nur Sachen kaputtmachen.“
Das Mädchen sagt, dass jetzt endgültig Schluss sei. Mama zieht Papa mit ins Boot,
der sich noch nicht mal mehr wehren kann, weil er tot ist.
Das Mädchen schmeißt die Mutter aus dem Haus.
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